Christian Helbock

SOUL LOVE, 2009/2010

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SOUL LOVE, 2009, Künstlerbuch, 21 x 29,7 cm, 167 Seiten

 

 

 

(STILL) MAKIN' IT

 

45 rpm (revolutions per minute)

SOUL LOVE ist noch ein Versuch über die Liebe. Eine Art Partitur dialogischen Sprechens.

Eine Phänomenologie der Liebe in Form von Liebes-Sätzen oder Liebes-Titeln. Der

Anlass, das Material hierfür sind Soul-Singles, die mir vor Jahren en gros überlassen

wurden. Die Titel der Songs dienten als sprachliche Anhaltungen, als vom Klanglichen

befreite Textkörper, teils affektive, teils metaphorische, stets aber nicht-interpretierte

Aussagen. In drei Kapiteln (1-3) wird so eine Dramaturgie des Begehrens nachgezeichnet,

die der Dialektik unserer Natur gemäss verläuft: wollen, haben, verlieren.

 

Turntable

Das mechanische Absenken des Tonarms, das Aufsetzen auf den drehenden Plattenteller.

Das analoge, atmosphärisch-technische Rauschen, wenn die Diamantnadel mit dem Vinyl

Kontakt nimmt. Das sich knisternde Einschreiben der Nadelspitze, ihr monoton-rotierender

Verlauf in den gerillten Vertiefungen des Tonträgers. Der Moment, in dem sich

Tonabnehmer und Aufnahme erstmals berühren, wie zueinander versenken, sich wie im

Liebesspiel ineinander vergraben, gegeneinander miteinander. Ins weisse Rauschen.

 

Stereo

A und B. Die beiden Seiten einer Disk. Auch die beiden Songs einer Single. Zwei Sätze aus

dem Liebes-Alfabet. Elemente einer Sprache der Liebe. Die musikalische Ordnung dieses

Textes (SOUL LOVE) ist im Dialogischen aufgehoben, in seiner semantischen Bewegung verborgen,

hinter seinen Farbtönen versteckt. Das Zwischenspiel dieses Liebes-Theaters wird

auf den Doppelseiten des Buches aufgeführt. Im Umblättern, in der Abfolge, ihrem

Vergleich. Durch Ergänzung und Auslöschung. Die Sprache wird hier zur Leerstelle. Die

abwesende Musik über den wechselnden Farbgebrauch assoziiert. Rhythmus und Melodie

erblühen als eine Art Oberton aus dem Liebes-Satz. Durch unsere Imagination.

 

Studio

Der Tonarm des Plattenspielers, wie man sagt, nimmt den Ton ab eigentlich doch eher

auf. Die Aufzeichnung, das Geräusch hebt an. Aufgehoben an anderer Stelle, zu anderer

Zeit verwahrt. Der Arm, seine feingliedrige Kralle, gibt den Ton frei, formt ihn, übersetzt

diesen in den gegenwärtigen Raum, aus dem Tonstudio, jenem ersten imaginären Tonraum,

in einen späteren, vorläufigen und endgültigen, realen Klangraum. Seine Wiedergeburt

erlebt dieser Tonraum im Farbtonraum, dem Wechsel von Klangwerten in Farbwerte. In der

spielerischen Verschiebung und Verdichtung seiner Signifikanten.

 

Songline

Gerade die Zufälligkeit und Arbitrarität des Gegenstands (einige Dutzend Soul-Singles), die

nicht hinterfragbare Qualität des Ausgangsmaterials (keine soziologische Absicht), scheinen

dem Liebes-Diskurs, diesem Phantasma der Totalität, angemessen. Die Umrisse der politischkulturellen

Landkarte des Soul werden in Kapitel 4 mit freier Hand gezogen. Der Sprache der

Liebe selbst widerspricht eine solche Kartografie zwar. Denn sie ist synchron und ahistorisch.

So verstehen sich die sprachlichen Pathosformeln von SOUL LOVE als eine Art Echolot, das

den unauslotbaren Raum des Herzens vermisst. Selbst bildmächtig, doch ohne Abbild. Nicht

spurlos, doch ohne Kontur. Ohne Laut, doch hörbar. Kein Sprechen, nur mehr Verstehen.

 

(Christian Helbock, 2007)

 

 

 

 

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Präsentation von SOUL LOVE im Rahmen der Ausstellung Salon für Kunstbuch. Ein Kunstwerk als Unternehmen,

Galerie für Zeitgenössische Kunst, Leipzig, 2010 

 

 

SALON FÜR KUNSTBUCH ist ein 2007 in Wien eröffneter Präsentations- und Ausstellungsraum,

der als 1:1 Modell einer Buchhandlung von Bernhard Cella konzipiert und gestaltet wurde.

Sein Thema ist die Auseinandersetzung mit aktuellen Produktionen von Kunstbüchern,

die in ausser / europäischen Kontexten gesucht werden. Im SALON FÜR KUNSTBUCH finden

sie ein Forum. Darüber hinaus werden KünstlerInnen, HerausgeberInnen, VerlegerInnen,

GraphikerInnen und AutorInnen zu öffentlichen Gesprächen und Buchpräsentationen eingeladen.

2009 startete Cella unter Have you recently published an art book without ISBN? einen

Open Call im Internet. Seit März wird die eigenwillige Sammlung von Publikationen, die

im Eigenverlag produziert und ohne ISBN-Nummer vertrieben werden, in der GfZK präsentiert.

 

 

 

 

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Setting zum Video SOUL LOVE (SINGLES), Café Paris Syndrom, Galerie für Zeitgenössische Kunst, Leipzig, 2010

  

     

 

 

SOUL

 

SOUL had started coming out of the churches and the nightclubs into the streets.

Everybody started talking about soul as though it was something that they could see on people.

(Claude Brown , Growth & Survival in Harlem)

 

soul [soul] Seele, Gemüt, Leben, Wärme, Wesen

 

 

Ein uraltes Wort, Fundamentalvokabel von Religion und Philosophie, findet in der afro-

amerikanischen Community der frühen 1950er eine neue Bestimmung. Das exakte Datum

der verbalen Wiederaufbereitung liegt dabei genauso im Dunkeln der oral history, wie der

Urheber dieses damals neuen, aber schon bald weitverbreiteten Sagers. Fest steht, eine

plötzliche Eingebung, eine assoziative Pointe, eine wohlklingende Sequenz im Redefluss

der Hipster und Hepcats dieser Periode wird innerhalb kürzester Zeit zur allgemeingültigen

Selbstcharakterisierung der unterdrückten, schwarzen Bevölkerung der USA.

 

Viele Begriffe erlebten derartige Spontangeburten, zwischen Tür und Angel der Lokale und

auf der Strasse, fanden ihr Echo in Songs und Zitaten, leierten aus und kamen aus der Mode,

aber Soul bleibt bis heute in Umlauf: als starkes, selbstbewusstes Wort mit einer geheimnisvollen

Aura. Das konspirative, klandestine Element im afroamerikanischen Sprachschatz bildet

sich als Notwendigkeit im Umgang mit einer brutalen, absoluten Autorität. Wenig Rechte,

noch weniger Gerechtigkeit, durch totale Abhängigkeit und Bevormundung völlig ausgeliefert,

zuerst Sklaven, dann Hilfsarbeiter einer grob chauvinistischen, offen rassistischen

Gesellschaft, damit müssen die Schwarzen jahrhundertelang leben.

 

Eine metaphernreiche, kodierte Kommunikation hilft ihnen dabei zu überleben. Das derbe

Demütigungsvokabular, als Selbstverständlichkeit täglich auf sie einprasselnd, kontern sie

mit vergleichsweise eleganten Formulierungen: die Weissen, das sind silks und grays noch

unverfänglicher Charly oder the man. Den Wunsch nach einer eigenen, würdevollen

Identität manifestiert der Begriff member, so sahen sie sich selbst lange vor dem Soulwort,

in einem ersten Entwurf positiven Denkens unter widrigsten Bedingungen.

 

Die Zeit nach dem Bürgerkrieg bringt zwar eine deutliche Verbesserung der

Lebensumstände für die schwarze Bevölkerung der Vereinigten Staaten, nach dem ersten

Weltkrieg entlarvt sich die Bigotterie dieser Gesellschaftsordnung aber erneut.

Peinlicherweise mittels der eigenen Massstäbe. Amerika, positioniert sich vor der ganzen

Welt als Ordnungsmacht mit Demokratie und Humanismuskompetenz und behandelt

Männer, die für diese Ideale kämpfen im eigenen Land als Menschen zweiter Klasse.

 

Vorurteile, Ängste und Lügen, die gesamte Zwiespältigkeit der USA werden vorgeführt, als

im Februar 1919 das 369ste Infanterieregiment, ausgezeichnet mit der höchsten französischen

Tapferkeitsmedaillie von der 5th Avenue zum Union Square marschiert. Die Parade

wird von einer Million Schaulustiger frenetisch bejubelt, zum ersten Mal prägen sich afroa-

merikanische Helden ins allgemeine Bewusstsein. Die Harlem Hellfighters standen

191 Tage unter Feuer ohne sich zu ergeben und straften so das damals gängige Image

vom faulen und feigen schwarzen Soldaten, höchst öffentlichkeitwirksam Lügen.

 

Es waren also martialische Ereignisse die einen ersten, zaghaften Weg in Richtung

Gleichstellung deutlich wirksamer beinflussten, als die jahrzehntelangen, sehr leidenschaftlichen

Debatten über Liberalität und Menschenrechte zuvor. 45 Jahre später sollte

eine ebenfalls außerhalb der USA verliehene hohe Auszeichnung die selbe

Diskussion noch einmal aufs emotionalste entfachen: die Verleihung des

Friedensnobelpreises an Dr. Martin Luther King am 10. Dezember 1964.

 

Ein weiter Zeithorizont, der auf die Länge und Beschwerlichkeit des Weges zur Erlangung

der vollen Bürgerrechte hinweist. Die nach dem 1. Weltkrieg von der Regierung in Aussicht

gestellten Reformen für Militär, ziviles Leben und Wirtschaft verschwinden nämlich ganz

schnell wieder von der Tagesordnung und es sollte noch einen zweiten, noch größeren Krieg

brauchen, bis sie wenigstens ansatzweise in die Wege geleitet werden. Kulturell aber, ist der

Aufbruch des schwarzen Amerikas durch politische Verzögerungstaktik nicht mehr aufzuhalten.

Die Roaring Twenties, das Jazz Age mit pulsierenden Zentren wie New Orleans, Chicago

und vor allem Harlem befeuert nicht nur ein kräftig aufkeimendes afroamerikanisches

Selbstbewusstsein, es revolutioniert die Musik komplett und für alle Zeiten.

 

Parallel zu der immensen kreativen Bewegung, hilft die ab Anfang des 20.

Jahrhunderts mögliche industrielle Fertigung von Tonträgern bei der schnellen und

massenhaften Verbreitung dieser neuen Strömung. Der Siegeszug der Schellacks

sorgt für eine intensivere Vernetzung, Motivation und gegenseitige Beeinflussung der

Musiker und somit für einen Schneeballeffekt. Auch eine Globalisierung wird dadurch

rasch und einfach möglich gemacht und bald ist auch in europäischen Metropolen

wie Paris, London und Berlin Jazz ein Synonym für State of the Art.

 

Moderne Musik ohne den Sound, Stil und Soul afroamerikanischer Künstler? Bis heute

völlig undenkbar. Die Schwarzen nehmen aber auch in anderen Bereichen die Rolle

einer Avantgarde ein, wie es der Modevisionär Rudi Gernreich sehr treffend auf den

Punkt bringt: Sie waren nie Teil des Systems und sind daher viel unkonventioneller in der

Art sich auszudrücken oder zu kleiden (...), sie leuchten richtig und es gibt mehr eindeutig

sexuelle Bezüge. Als Gernreich dieses Interview für ein amerikanisches

Psychologiemagazin gibt, hat die Schellack längst ausgedient, ist von der 45rpm Vinylsingle

erfolgreich abgelöst worden und das Jazz Age ist zum Soul Age mutiert.

 

Soul ist die Summe einer langen kulturellen Entwicklung, universell, aber doch spezifisch

afroamerikanisch. Soul wird Pop. Soul bleibt Underground. Soul ist hoch politisch.

Soul ist ganz persönlich und intim. Soul bringt dich zum Tanzen. Soul bringt dich zum

Nachdenken. Soul versprüht Enthusiasmus, Lebensfreude, Mut und Spirit. Soul kann die

traurigste, depremierteste Stimmungslage der Welt transportieren. Soul wird von karger

Instrumentierung getragen. Soul funkelt in opulenter Orchestrierung. Soul atmet

Liebe und Leidenschaft. Soul verarbeitet Wut und Enttäuschung. Soul bringt es direkt

und unverblümt auf den Punkt. Soul befördert verschlüsselte Botschaften. Soul verzehrt

sich in der Intensivität der Emotion. Soul bleibt cool und kontrolliert. Soul, manchmal

deftig und dirty. Soul, oft spirituell und reflektiert.

 

Because my mouth is wide with laughter, and my throat is deep with song,

you do not think I suffer after I held back my pain so long?

Because my mouth is wide with laughter you do not hear my cry?

Because my feet are gay with dancing, you do not know I die?

(Langston Hughes)

 

(bto spider, 2007) 

 

 


 

 

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SOUL LOVE (SLEEVES), 2010,  bto spider für SOUL LOVE (SINGLES), Galerie für zeitgenössische Kunst, Leipzig